Haydar Ergülen: “Sein möchte ich… deine denkende Hand”

Haydar Ergülen Keder gibi ödünç
© Mine Krause

Ein Spiegel unseres Schicksals: so könnte man Haydar Ergülens Gedichtesammlung “Keder gibi ödünç” vielleicht am besten beschreiben. Seine Sprache fließt dahin wie eine unendliche Melodie, die die Aufs und Abs des Lebens widerspiegelt. Regen, Farben, Einsamkeit, Briefe, Freundschaft, Glück, Liebe, Kindheit, Wörter, Schreiben… All diese Themen finden sich in seinen eindrucksvollen Versen.

Wir erschaffen mit unseren Händen, oder besser gesagt mit unseren Fingern. Schreibenden Händen gelingt es, eine einzigartige Welt mit sorgsam gewählten Worten ins Leben zu rufen. Ergülen vermenschlicht unsere Hände… „Hände sind des Menschen Familie“ (“Elleri ailesidir insanın”) – mit diesen Worten beginnt eines seiner Gedichte. „Sie sind seine Großzügigkeit“ (“Elleri cömertliğidir insanın”), geht es weiter. Hände: der Schatz eines jeden Dichters.

Das folgende Gedicht, das ich während einer ungewöhnlichen Busfahrt las, brachte mich auf den Gedanken, nach Händen in Ergülens Werken zu suchen:

“Sein möchte ich
deine trinkende Stimme
dein laufendes Wort
deine denkende Hand
dein küssendes Auge…”

(“Olmak istiyorum
su içen sesin
yürüyen sözün
düşünen elin
öpüşen gözün…”)

 

“Deine denkende Hand” steht als kraftvolle Metapher für den Akt des Schreibens an sich. Eine stets erschaffende, stets erneuernde, stets bewegende Hand. „Was die Hand sieht, sieht das Auge” (“el neyi görüyorsa göz ona bakar”): In Ergülens Welt können schreibende Hände sehen, sind manchmal blind, können fühlen, denken und halten so viele Dinge fest: einen Fisch, einen Füller, ein Buch, eine Zigarette, einen Spiegel, ein Wort, einen Menschen… Ein Stift verwandelt die Traumwelt in etwas Konkretes, das gelesen und geteilt werden kann. Unsere Schrift verewigt Worte, Gedanken und Gefühle auf Papier.

Writing hand pen
© Mine Krause

Unzählige Wortspiele macht der Dichter um den Ausdruck „Hand“ herum, und das nicht ohne Grund: Hände sind magische Instrumente – sie können erschaffen, aber auch zerstören. Mit ihnen werden Worte und Gedanken geformt. Sie dienen als Spiegel unserer Gefühle. Dank Ergülens begabter Hände halten wir einen literarischen Schatz in den unseren. Das letzte Gedicht dieser Sammlung las ich, bevor ich mit unvergesslichen Erinnerungen aus dem Bus stieg. Ein türkischer Ausdruck drängte sich nach dieser Leseerfahrung unwillkürlich auf: “(Yazan) ellerinize sağlık” – “Gesundheit Ihrer (schreibenden) Hand”, lieber Haydar Ergülen.

 

Paris, 11/05/2014            © Mine Krause

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